Xaver Seligmann, ein pensionierter Lehrer, wird vermisst. Er war immer schon ein Sonderling, aber dass er von einem Tag auf den anderen sein ganzes Geld abhebt und spurlos verschwindet, ist selbst für ihn ungewöhnlich. Die Polizei findet Blutspuren in seinem Haus. Wurde er etwa entführt? Ermordet? Hat er etwas mit dem seit Wochen ungelösten Bankraub zu tun, bei dem der Filialleiter, einer seiner Nachbarn, als Geisel genommen wurde? Oder sollte die fast zehn Jahre zurückliegende Vergewaltigung einer seiner Schülerinnen der wahre Grund seines Verschwindens sein?
Buchinformation
- Erschienen im Februar 2007
- Piper Verlag, München
- 272 Seiten / Taschenbuch
- 9,99 Euro
- ISBN 9783492247863
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Leseprobe
Noch eine Minute.
Sechzig Sekunden noch, dann wird einer der beiden Männer tot sein. Und an mir ist es zu entscheiden, welcher. Dort drüben stehen sie am Fenster, jenseits dieser breiten Straße, die nun seit über einer Stunde schon gesperrt und ganz menschenleer und totenstill ist.
Der schwarz vermummte Scharfschütze kniet vor mir und hat sein schweres Präzisionsgewehr auf der Fensterbank aufgelegt und ist die Ruhe selbst. Verschmolzen mit seiner Waffe, eine Maschine, ein Tötungsautomat. Balke, bleich wie nie, sieht mit halb offenen stehendem Mund abwechselnd zu mir und auf das offene Fenster jenseits der Straße. Klara Vangelis, die sonst nichts umwirft, hat sich abgewandt, kann nicht mehr hinsehen. Und Seligmann, dieser Idiot, er hat mir das eingebrockt. Der Mann, der in seinem Leben vermutlich niemals irgendetwas Böses getan und doch so vielen Menschen Unglück und manchen sogar den Tod gebracht hat. Er oder der Zahnarzt, dessen Namen ich mir einfach nicht merken kann. Einer von den beiden Männern dort drüben muss sterben. In fünfzig Sekunden.
"Chef!", flüstert Balke mahnend, als hätte er Sorge, ich hätte stehend das Bewusstsein verloren. "Chef!"
Die Gewehrmündung bewegt sich kaum merklich und unendlich langsam ein klein wenig nach links.
Ich kann das nicht! Ich kann diese Entscheidung nicht treffen! Ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es doch, Menschen zu beschützen, Leben zu retten und nicht, über ihren Tod zu bestimmen. Ausgerechnet jetzt fällt mir der Moment ein, als ich den Namen Seligmann zum ersten Mal hörte und natürlich nicht ahnte, was damit auf mich zukam. Wann? Vor drei Wochen? Vor vier? Ich weiß es nicht. Nur eines weiß ich sicher, es war ein Freitag. Und plötzlich ist diese Wut da. Diese alles vernichten wollende, gnadenlose Wut, die meine Zähne ganz von alleine knirschen lässt.
Sollen sie doch alle beide verrecken dort drüben. Was geht es mich an?
Diese Wut, die mich in der nächsten Sekunde zum Platzen bringen wird.
Wut, auf wen?
Ja, auf wen eigentlich?