Lilli, ein elfjähriges Mädchen, wohnt erst seit einem halben Jahr in der Stadt. Sie kennt noch fast niemanden, was ihr aber nichts ausmacht, weil ihre Mutter ohnehin alle paar Monate mit ihr umzieht. Ihren Vater kennt Lilli nicht, aus Erzählungen ihrer Mutter weiß sie, dass er in Australien lebt und irgendwann zurück kommen wird.
Es ist Anfang Dezember, Weihnachten ist nicht mehr weit, als Lilli Zeugin eines aufregenden Ereignisses wird: Sie steht vor einem Schaufenster, als drei Männer vorbeirennen, von denen offensichtlich zwei den dritten verfolgen. Die Männer machen kehrt, kommen wieder zurück und beginnen direkt vor Lilli ein Handgemenge, in dessen Verlauf einer der Verfolger stürzt und das Bewusstsein verliert. Der zweite flieht mit dem Aktenkoffer des Opfers dieses Raubüberfalls.
Und am Ende ist Lilli unerwartet im Besitz eines schmalen Ordners mit einem sehr, sehr schönen Bild auf der Vorderseite. Sie nimmt den Ordner mit nach Hause, weil sie schöne Bilder über alles liebt und ahnt natürlich nicht, dass ihr und ihrer Umwelt deshalb zwei äußerst unangenehme Wochen bevorstehen ...
Buchinformation
- September 2003
- Neuauflage: Kontrast Verlag, 2014
- 224 Seiten / Taschenbuch
- 9,00 Euro
- ISBN 978-3897053038
Was die Presse sagt
Stuttgarter Zeitung
Boulevard Baden
Badische Neueste Nachrichten
Bad-Bad.de
Roberts Krimitagebuch
Leseprobe
Bei dem Laden gegenüber der Mondstraße blieb Lilli wieder stehen und besah sich die Dinge im Schaufenster. Hier gab es immer die unglaublichsten Sachen zu kaufen. Silbernen Schmuck, bunte Papageien aus Holz und geschnitzte Giraffen zum Beispiel, manche größer als sie selbst. Annemi hatte ihr einmal erklärt, die kämen tatsächlich aus Afrika, wo arme Menschen sie schnitzten um ihr Essen damit zu verdienen. Lilli stellte sich vor, dass das eine schöne Art war, sein Geld zu verdienen und überlegte, ob es hier in Deutschland auch solche Berufe gab, wo man schöne Dinge herstellte, die einem selbst und anderen Freude machten. Annemis Arbeit schien nie Spaß zu machen, so wie die immer drauf war, wenn sie abends nach Hause kam. Und obwohl sie ständig arbeitete, morgens vor sieben wegging und selten vor acht heimkam, reichte das Geld nie.
Wie erwartet, gab es im Schaufenster wieder etwas Neues: Einen blauen Frosch mit gelbem Maul und unglaublich großen Füßen. Er war so groß wie ein kleiner Hund und sah einen so treuherzig an, dass man fast weinen musste, wenn man ihn zu lange ansah. Lilli versuchte das Preisschild zu lesen um abzuschätzen, ob er ein geeignetes Objekt für den Weihnachts-Wunschzettel war. Aber das Anhängerchen lag verkehrt herum. Sie spielte mit dem gefundenen Ring, den sie an die linke Hand gesteckt hatte, uns sah sich nach weiteren interessanten Dingen um. Immer noch war es nicht einmal zwölf.
Eine Straßenbahn fuhr die Schillerstraße hinunter. Sie war innen beleuchtet, obwohl Tag war und fast leer. Ein Mann etwa in Annemis Alter in blauem Anzug rannte hinter ihr her. Er hatte sie wohl an der letzten Haltestelle verpasst und versuchte nun, sie einzuholen. Er hielt auch mühelos Schritt, jemand rief etwas, als würde er ihn anfeuern, und er wurde tatsächlich noch ein bisschen schneller. Plötzlich hörte Lilli noch mehr Schritte, und dann erkannte sie, dass zwei andere Männer dem einen folgten, und dass die es waren, die nach ihm riefen. Die beiden Verfolger trugen Jeans und schwarze Jacken, und Lilli konnte nicht verstehen, was sie riefen. Es schien eine fremde Sprache zu sein. Fredy sprach manchmal so ähnlich, wenn er sich mit seinen Freunden unterhielt, die sich ständig in seiner Döner-Bude herumdrückten, ohne jemals etwas zu kaufen.
Der im Anzug schlug einen Haken, als hätte er kein Interesse mehr an der Straßenbahn, bog in die Goethestraße ein, kam auf Lilli zu und rannte an ihr vorbei. Sein Atem ging keuchend, und er schien sie nicht einmal zu sehen. Seine Augen hatten etwas, was sie so noch nie bei einem Erwachsenen gesehen hatte: Sie waren ganz weit und starr, als hätte er vor irgendetwas furchtbare Angst. Jetzt erkannte Lilli, dass die anderen den Mann wirklich verfolgten, einer lief auf der anderen Straßenseite und hatte ihn schon fast überholt, der zweite raste eben an ihr vorbei. Er hielt etwas in der Hand, was sie nicht erkennen konnte. Lilli drückte sich ganz flach an die Wand und hielt den Atem an. Nun hatten sie ihn eingeholt, versuchten ihn zu packen, er riss sich los, machte kehrt, und kam wieder zurück. Einer der anderen stürzte, fluchte laut und sprang sofort wieder auf die Füße wie ein Tier bei Gefahr.
Der im Anzug hatte einen Aktenkoffer dabei, was ihn vielleicht behinderte, sie hatten ihn auch schon wieder, der jüngere warf ihn zu Boden, knallte dabei selbst der Länge nach hin, der Aktenkoffer flog davon, überschlug sich, platzte auf und schlitterte auf die Straße. Der im Anzug brauchte einige Sekunden, bis er wieder auf den Beinen war, der andere blieb liegen und gab röchelnde Töne von sich. Jetzt erst bemerkte Lilli, dass der Rückspiegel des Autos, neben dem die beiden hingefallen waren, abgebrochen war und zersplittert am Boden lag. Der andere Verfolger, der ältere, beachtete die am Boden liegenden gar nicht, sondern hatte sich sofort auf den Koffer gestürzt. Ein blaues Auto musste bremsen, hupte, er sah nicht einmal auf, rafft alles zusammen, stopften es in den Koffer zurück und rannte davon. Schon war er verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Der im Anzug sah ihm keuchend und mit offenem Mund nach, hatte aber offenbar nicht mehr die Kraft, ihm zu folgen. Er hielt sich das Knie, vielleicht hatte er sich weh getan. Der am Boden hatte die Augen geschlossen und gab keinen Laut mehr. Ein wenig Blut kam aus seiner Nase.
Kopfschüttelnd fuhr der Autofahrer wieder an, Lilli hörte, wie er vor sich hinschimpfte, und dann war es auf einmal ganz still. Nur der Atem des Mannes, dem der Koffer gehört hatte, war zu hören. Wie ein gehetztes Tier sah er um sich, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, und Lilly hatte das Gefühl, dass er sie noch nicht einmal bemerkt hatte, obwohl sie nur drei Schritte von ihm entfernt stand.
Die Finger des Mannes am Boden machten noch ein paar kleine, zaghafte Bewegungen, als würde er jemandem winken, ohne dass es andere sehen sollten. Lilli starrte ihn an, wagte nicht, sich zu regen und atmete ganz flach. Die Bewegungen seiner Hand hörten langsam auf, als wäre er jetzt eingeschlafen. Hinter ihr quietschte eine Tür.
Aus dem Laden mit den Giraffen und dem Frosch trat eine Frau in einer bunten Bluse und kurzem Rock, und das erste was sie sagte, war:
"Na, so eine Scheiße! Noch nicht mal Mittag und schon der erste Besoffene!" Dann sah sie das Blut.